So bespitzeln Versicherer Langzeitkranke

Berlin. Manfred Speck, bodenständiger Berliner mit Pullover und Goldkette, hoher Stirn und starker Brille, steht ratlos vor seinem Automechaniker und sieht ihn mit großen Augen an. Der Mann hat gerade unter Specks aufgebocktes Auto gegriffen, das zur Routineinspektion in der Werkstatt ist, und mit beiden Armen einen massiven Kasten hervorgeholt. &bdquo;Das istn GPS-Tracker", sagt der Mechaniker, &bdquo;n Peilsender." Und als Manfred Specks Augen sich noch mehr weiten, fragt er: &bdquo;Was machen Sien beruflich?" Das war der Moment, in dem der Ärger losging, erinnert sich Manfred Speck heute, anderthalb Jahre später. Der Berliner, knapp über 60, betreibt zusammen mit seiner Frau ein kleines Bistro in einem Plattenbauviertel im Nordwesten der Hauptstadt. Speck konnte damals noch nicht ahnen, dass es seine eigene Krankenversicherung war, die ihn beschatten ließ. Heute weiß er, dass auch große private Versicherungskonzerne seit Jahren heimlich auf Detektive zurückgreifen. So auch die Versicherung von Speck, die &bdquo;Gothaer Krankenversicherung AG" mit Sitz in Köln, die eine Privatdetektei mit seiner Beschattung beauftragte. 25 Jahre Beiträge gezahlt - dann die Kündigung Das ergaben Recherchen des ZDF-Magazins &bdquo;Frontal 21", das dafür unter anderem die Prozessakten auswertete. Auch Manfred Speck kennt den Bericht der beauftragten Wirtschaftsdetektei inzwischen: Die Gothaer hatte ihn vor Gericht als Beweis dafür vorgelegt, dass er trotz Krankmeldung gearbeitet habe. Denn darum drehte sich das Verfahren vor dem Landgericht Berlin: Die Gothaer hatte Speck nach 25 Jahren, in denen er seine Beiträge korrekt einzahlte, die Krankenversicherung gekündigt. Er habe in seinem Bistro Kunden bedient, Tische abgewischt, Kaffee eingeschenkt. Dafür habe man Beweise. Dazu muss man wissen, dass das Leben von Manfred Speck, der seit 1992 als Selbstständiger in Berlin-Charlottenburg arbeitet, schon einmal viel schlimmer aus der Bahn geworfen worden war: durch einen Schlaganfall im Jahr 2016. Speck riss die Diagnose den Boden unter den Füßen weg, er verlor jeden Lebensmut, bewegte nur noch in einem Dreieck aus seinem Hausarzt, den Spezialisten in seiner Tagesklinik und der Notaufnahme der Charité. Mehrere Ärzte diagnostizierten Depressionen. Im Dezember 2016 traute er sich zu, langsam wieder mit der Arbeit anzufangen. Dazu hatte ihm seine Ärztin geraten, damit er unter Menschen kommt. Das helfe gegen die Depression. Auf Anraten seiner Ärztin ließ er sich allerdings in größeren Abständen hin und wieder zwei Wochen krankschreiben, um sich nicht zu überfordern. Die Krankenkasse protestierte nicht dagegen. Heimliche Fotos, Überwachungsprotokolle, Bilder der Ehefrau Später schickt ihm die Gothaer die fristlose Kündigung. Das war für Speck ein Schock: &bdquo;Rumms, kein Geld, keine Versicherung mehr!" Sein Anwalt brachte ihm dann den Hauptbeweis der Gothaer mit: Den ausführlichen Bericht einer Detektei, der ihn als Versicherungsbetrüger überführen sollte. In dem Papierstoß – 55 Seiten voller Überwachungsprotokolle, Bewegungsprofile, heimlicher Handyfotos, Bilder seiner Wohnung, seines Bistros und seiner Bekannten – fand Manfred Speck auch Nacherzählungen von Gesprächen am Kaffeetisch in seinem Geschäft. Er stieß auf Fotos vom Termin beim Vertrauensarzt der Privatkasse, den nur er und die Gothaer kannte, und las, dass auch seine Frau observiert und sogar mit dem Auto verfolgt wurde. &bdquo;Wie im Film", sagt er. 2009 landet schließlich ein Fall vor dem Bundesgerichtshof. Die Richter entscheiden, dass Versicherungen im Einzelfall zwar Detektive einschalten dürfen – aber nur bei einem hinreichenden Anfangsverdacht und ohne Datenschutzverletzungen. Darauf beruft sich die Richterin am Berliner Landgericht in ihrem Urteil im Streit zwischen Speck und der Gothaer Versicherung. Vor knapp einem Monat stimmt sie der Versicherung zwar darin zu, dass Speck kein Tagegeld zusteht, wenn er während seiner Krankschreibung im Bistro arbeitet. Rüge vom Gericht Aber: Sie erklärt die Kündigung seiner Krankenversicherung für unwirksam – und rügt: &bdquo;Ein solcher Einsatz von Detektiven, der veranlasst wird, ohne dass konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für eine Berufsausübung des Versicherungsnehmers (während der Krankschreibung) vorliegen, stellt sich als unredliches Verhalten der Versicherung dar." Manfred Speck fühlt sich von der Richterin in seinem Verdacht bestätigt, dass Versicherungen ihre Mitarbeiter und Schnüffler gezielt auf kranke, alte Versicherte ansetzen, die zu teuer zu werden drohen. Wie ein Sieger fühlt er sich trotzdem nicht. Er rechnet fest damit, dass die Versicherung Revision einlegen wird. Vieles spricht dafür, dass die Detektive juristisch zu weit gegangen sind: Aufgrund der Anzeige von Speck wegen des Peilsenders ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft in Berlin. Die Büroräume der beauftragten – und mittlerweile geschlossenen – Detektei in Quickborn wurden durchsucht. Anzeige erstattet Auch die Berliner Datenschutzbeauftragte hat Anzeige erstattet; Specks Geschichte wird anonymisiert im Jahresbericht angeprangert: Der Einsatz von &bdquo;GPS-Technik, um unbefugt personenbezogene Daten zu erheben, ist grundsätzlich strafbar." &bdquo;Unsere Erfahrung ist, dass die Fälle immer mehr werden", sagt Specks Anwalt Reinboth, &bdquo;und die Versicherungen und die Detekteien in eklatanter Weise gegen das Persönlichkeitsrecht unserer Mandanten verstoßen." &bdquo;Frontal 21", heute, 21 Uhr, ZDF.

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