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Kanzlerkandidatur: Sigmar Gabriel (SPD) lässt Schulz den Vortritt

Gabriel will nun Außenminister werden und sich an der Spitze des Wirtschaftsministeriums von seiner Parlamentarischen Staatssekretärin Brigitte Zypries ablösen lassen

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Sigmar Gabriel und Martin Schulz. | © picture alliance / dpa

Sigmar Gabriel und Martin Schulz. | © picture alliance / dpa

24.01.2017 | 25.01.2017, 06:25

Berlin (dpa). Ein bisschen verloren steht die SPD-Prominenz im Halbschatten der übergroßen Willy-Brandt-Statue. Olaf Scholz und Hannelore Kraft lächeln, Thomas Oppermann schaut meist ernst. Acht lange Minuten müssen sie warten. Dann sind Martin Schulz und Sigmar Gabriel da. Es ist still in der Parteizentrale. Niemand klatscht. Dabei sollte die Auflösung in der K-Frage das Signal zum Aufbruch aus dem 21-Prozent-Jammertal der Sozialdemokraten werden.

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (r.) sitzt in Berlin in einem Sitzungssaal in der SPD-Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus. - © picture alliance / Bernd von Jutrczenka/dpa
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (r.) sitzt in Berlin in einem Sitzungssaal in der SPD-Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus. | © picture alliance / Bernd von Jutrczenka/dpa

Es ist 19.32 Uhr: Gabriel trägt vor, was Stunden zuvor die SPD und die Öffentlichkeit aus dem Internet erfahren haben. Der Goslarer verzichtet auf die Kanzlerkandidatur und übergibt auch den Vorsitz an seinen "Freund" Schulz. Warum dieser spektakuläre Rückzug? "Weil er die besseren Chancen hat. Das liegt auf der Hand", sagt Gabriel. Zuvor hat die SPD-Führung oben im Präsidiumszimmer auf dem Beamer eine Grafik nach der anderen angeschaut.

Wer könnte CDU-Dauerkanzlerin Angela Merkel bei der Bundestagswahl gefährlicher werden, Gabriel oder Schulz? Die Zahlen lügen nicht. Es ist Schulz. Das hat am Ende auch Gabriel eingesehen. Aber Vorsicht: Auch die Kanzlerkandidaten von 2009 und 2013, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, hatten zum Start gute Werte - und verglühten dann doch.

Der bisherige EU-Parlamentspräsident Schulz aber traut sich das Unmögliche zu. Der 61-Jährige will die Kanzlerin in Verlegenheit bringen. "Ich weiß gar nicht, ob ich der Beste in der SPD bin. Aber vielleicht habe ich die besten Chancen, die Bundestagswahl zu gewinnen", sagt Schulz, den sich viele in der SPD an der Spitze gewünscht haben. Zu Beginn seiner kleinen, improvisiert wirkenden Rede wirkt selbst der in unzähligen EU-Krisengipfeln gestählte Schulz ein wenig unsicher. Es sei ein besonderer Tag, "der mich tiefbewegt". Dann legt er los.

Die SPD müsse mutig sein, angreifen: "Dieses Land braucht in schwierigen Zeiten eine neue Führung." Der Satz gilt auch für die eigene Partei. Schulz will den "tiefen Riss" der sozialen Ungerechtigkeit kitten, der durch Europa und die Welt gehe. Die Gesellschaften drifteten auseinander. "Mit mir wird es kein Bashing gegen Europa, keine Hatz gegen Minderheiten geben." Die SPD sei die Brandmauer gegen Demokratiefeinde - er meint damit auch die AfD. Die Rechtspopulisten wiederum begrüßen den EU-Bürokraten Schulz mit dieser Botschaft: "Namens der ganzen AfD: Herzlichen Dank, wir können unser Glück kaum fassen!", twitterte Beatrix von Storch.

Künftig wird Schulz gemeinsam mit Gabriel, der vom Wirtschafts- ins Außenministerium wechselt, versuchen, Merkel im Doppelpack in die Zange zu nehmen. Klar ist aber: Schulz sitzt vorne, Gabriel muss sich fügen. Kann das gut gehen? Gabriel argumentiert, genau deshalb habe er Schulz beide Aufgaben angeboten. "Zwei unterschiedliche Zentren" hätten der SPD in Wahlkämpfen nie gut getan. Schulz hatte sich in den zurückliegenden Wochen immer selbstbewusster als Alternative zu Gabriel nach vorne geschoben. Das missfiel dem Goslarer zeitweise.

Am vergangenen Samstag habe das entscheidende Gespräch stattgefunden, erzählt Schulz. Es sei eine "sehr offene Analyse" gewesen. Gabriel wird nun Chefdiplomat. In der Partei halten das manche wegen seiner Unberechenbarkeit für ein Risiko. Gabriel will sich an die Kabinettsdisziplin halten und mit Merkel abstimmen. Jedes "Vibrieren" in der deutschen Außenpolitik führe zu erdbebenartigen Ausschlägen in anderen Teilen Europas, sagt Gabriel. An diesem denkwürdigen Tag aber ist er es selbst, der die Partei und das politische Berlin vibrieren lässt.

Gabriel spricht von "Punktlandung"

Die SPD wollte dieses Mal in der K-Frage alles richtig machen. Vor den Wahlen 2009 und 2013 purzelten Steinmeier und Steinbrück plötzlich auf die Bühne. Die folgenden Wahlkämpfe gingen grandios schief. Gabriel schwor nun alle auf den Zeitplan mit dem Finale am kommenden Sonntag ein. Aber es klappt wieder nicht. Die SPD schafft bei den Sturzgeburten nun den Hattrick - wenngleich Gabriel selbst kühn von einer "Punktlandung" spricht.

Noch vor den angesetzten Spitzenrunden rauschte die Sensation durch das Internet. Das Branchenmagazin Meedia twitterte das Titelbild der neuen Ausgabe des Hamburger Magazins stern - Überschrift zu einem großen Gabriel-Foto: "Der Rücktritt". Vorab hatte Gabriel das Personalpaket zwei Freunden, dem stern-Chefredakteur Christian Krug und Zeit-Mann Bernd Ulrich, gesteckt.

Nach dem ersten Frust über die Kommunikation sagen viele Parteipromis, Gabriel habe echte Größe gezeigt. Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte und langjährige Gabriel-Kritiker meint, der Goslarer sei nun aber auch eine tragische Figur. Die katastrophale Kommunikation des Rücktritts sei nicht entscheidend: "Das Ergebnis der Operation zählt und nicht der Verlauf", sagt der Professor, der sich wie viele auf die Schulz-Ära freut.

So ist Gabriel eben. Oft reißt der 57-Jährige mit dem Hintern ein,was er vorher mühsam aufgebaut hat. Kaum ein Parteifreund, der noch nicht von dem impulsiven Vorsitzenden heruntergeputzt oder enttäuscht wurde. "Wenn er zur Hochform aufläuft, macht er alles nieder. Jeden", sagte Renate Luksch in einer neuen Biografie über den Vizekanzler. Luksch zählt in Goslar zum engen Freundeskreis der Familie.

Brigitte Zypries (SPD). - © picture alliance / dpa
Brigitte Zypries (SPD). | © picture alliance / dpa

Erstaunlich ist, dass Gabriel nun seine Karriere im Außenministerium fortsetzen will. Er wolle die "GroKo" in dieser Funktion "mit Anstand zu Ende bringen". Gabriel im Abklingbecken der Weltpolitik? Am Dienstag soll das die Fraktion absegnen, ebenso das Comeback von Brigitte Zypries, die einst das Justizressort führte und nun Wirtschaftsministerin wird. Vor vier Jahren hatte Gabriel den Posten als Chefdiplomat aus Rücksicht auf die Familie noch abgelehnt.

Denn da sind ja in Goslar ein paar Menschen, die viel ertragen müssen, weil ein Alphatier wie Gabriel fast nie zu Hause sein kann. Im Februar erwarten Gabriel und seine Frau Anke noch ein zweites gemeinsames Kind. Wieder ein Mädchen. Oft spricht Gabriel - der als kleiner Junge unter einem Nazi-Vater litt und sich stets nach Geborgenheit sehnte - von seiner vierjährigen Tochter Marie. Er sieht sie selten. Als Außenminister wird die Zeit noch knapper sein. Aber es sind nur noch ein paar Monate bis zur Bundestagswahl. Dann dürfte sich die schillernde Karriere Gabriels ihrem Ende nähern, von dem viele einst glaubten, er könne einmal Kanzler werden.


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