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So verändert die Digitalisierung den Arztbesuch

Vom elektonischen Rezept bis zur Video-Sprechstunde - das Gesundheitswesen ist mitten im digitalen Umbruch. Mit Folgen für die Patienten

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Visite per Video: Ein Pfleger sitzt mit einer Seniorin vor der Kamera, der Arzt ist zugeschaltet. | © La-Well Systems GmbH

Visite per Video: Ein Pfleger sitzt mit einer Seniorin vor der Kamera, der Arzt ist zugeschaltet. | © La-Well Systems GmbH

21.05.2019 | 21.05.2019, 21:40

Bielefeld. Das Telefonat über Digitalisierung im Gesundheitswesen wird abrupt unterbrochen, als Theo Windhorst ins Funkloch fährt. Gerade hat der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe noch von einem vorbildhaften Projekt in Bünde geschwärmt, da bricht das Netz zusammen. Die Situation ist sinnbildhaft für die Hürden, die der Telemedizin noch immer im Wege stehen: Schlechte Internetverbindungen, fehlende technische Ausstattung in Praxen und Haushalten, auch fehlende gesetzliche Regelungen, zählt Windhorst auf, als die Leitung wieder steht: "Wir liegen hier in Deutschland massiv zurück." Jahrelang hätten Politik und Ärzteschaft nicht den nötigen Veränderungsdruck aufgebaut, um Anschluss zu finden an Länder wie Estland oder auch die USA. Dabei, so klagt der Bielefelder, biete die Digitalisierung enormes Potenzial, um die ärztliche Versorgung zu verbessern. Aber die Veränderungen haben begonnen.

Videosprechstunde im Heim

Wenn Hildgard Müller (89) einen neuen Verband braucht, geht sie nicht zum Arzt, der Arzt kommt zu ihr ins Pflegeheimzimmer - zugeschaltet per Video. Über eine Kamera schaut sich der Bünder Chirurg Hans-Jürgen Beckmann an, wie gut die Wunde an der Ferse verheilt ist, fragt die Patientin nach ihrem Befinden und ob sie Schmerzen hat und entscheidet: Das sieht gut aus, ein Mullverband reicht ab jetzt - "bitte nicht so fest anlegen", bekommt der Pfleger noch mit auf den Weg, der Frau Müller betreut.

Jeden Tag hält Beckmann eine solche Videosprechstunde ab, spricht dabei mit bis zu sechs Pflegeheim-Bewohnern. Er nutzt dafür eine Software, die er selbst mit entwickelt hat: ElVi, die "elektronische Visite". ElVi hat inzwischen zahlreiche Preise kassiert, gilt als Vorzeigeprojekt, wird von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe und der AOK Nordwest unterstützt und dehnt sich langsam in Westfalen-Lippe aus. Aber: ElVi ist noch immer ein Nischenprodukt. Zwar arbeiten in Bünde, Kirchlengern und Rödinghausen 43 Ärzte, die sich zum Praxisnetzwerk MUM zusammengeschlossen haben, mit dem System und betreuen so Bewohner in 15 Einrichtungen. Insgesamt aber diagnostiziert Beckmann noch immer eine "riesige Massenträgheit": In der - bekanntermaßen alternden - Ärzteschaft sei die Skepsis gegenüber elektronisch unterstützten Sprechstunden groß, auch wenn in den letzten Monaten einiges in Bewegung geraten sei. Das werde auch Zeit, meint der Mediziner, und zählt die "gewaltigen Vorteile" auf, die sich für Arzt, Patienten und Pflegepersonal ergäben.

Vorteile für Arzt und Patienten

Der Arzt vertändelt nicht mehr Stunden mit der Anfahrt zu Hausbesuchen: "Ich kann mehr Patienten betreuen, weil ich weniger durch die Gegend fahre", sagt Beckmann. Vor allem aber könne er seine Patienten sehr viel engmaschiger betreuen: "Weil die elektronische Visite so einfach zu organisieren ist, kann ich viel häufiger nach den Leuten sehen." Umgekehrt erspart ElVi unnötige Fahrten für viele ältere, oft bettlägerige und schwerst kranke Menschen, "die früher mühsam mit der Feuerwehr in die Praxis gekarrt worden sind". Fühlt sich ein Pflegeheimbewohner nicht wohl, meldet das Pflegepersonal rasch eine Video-Schalte an: "Dann spreche ich kurz mit den Pflegern und dem Patienten und kann mir ein Bild machen, ob ein Besuch überhaupt nötig ist." All das entlaste im Praxisalltag enorm, sagt Beckmann, warnt aber davor, die digitale Sprechstunde als Lösung für den Ärztemangel auf dem Land zu missbrauchen: "Was nicht passieren darf, ist, dass das System als Ersatz für den direkten Patientenkontakt dient." Auch Windhorst ist überzeugt: "Der Goldstandard bleibt die Arzt-Patienten-Beziehung. Gerade kranke Menschen brauchen auch mal die beruhigende Hand auf der Schulter."

Videosprechstunde zuhause

Bis sich die Videosprechstunde auch für Patienten zuhause durchsetze, wird es wohl noch dauern: Gerade einmal 77 Ärzte haben sich bislang bei der KV Westfalen-Lippe angemeldet - eine Voraussetzung dafür, das System auch über die Kasse abzurechnen. Heike Achtermann, Sprecherin bei der KVWL, verweist auf technische Hürden wie fehlende Datenleitungen: "In den Großstädten, wo das Internet gut ist, ist der Weg zum Hausarzt nicht weit. Aber gerade auf dem Land, wo Ärzte fehlen, reicht die Internetverbindung oft nicht aus." An Vorbehalten der Patienten jedenfalls werde die Technik nicht scheitern, ist Chirurg Beckmann überzeugt: "Wer mit seinen Kindern im Ausland skypt, der wird auch seinen Arzt per Video kontaktieren." Ärztepräsident Windhorst verweist auf ein anderes Problem: Die Elektronische Gesundheitskarte, mit deren Hilfe sich ein Patient sich am Bildschirm identifizieren könnte, ist noch immer nicht überall eingeführt. Das allerdings wird bis Ende des Jahres wohl erledigt sein, dann nämlich drohen Strafzahlungen für Ärzte, die den technischen Standard für die Karte nicht nachweisen. Windhorst hofft, dass das einen Schub gibt für die Videosprechstunde: "Dann können Menschen mit einem einfachen Brechdurchfall oder einer schweren Erkältung Zuhause vor dem PC beraten werden und ein Rezept bekommen - und stecken nicht in der Praxis viele andere an."

Videokonferenzen mit Spezialisten

Schneller in die Regelversorgung integriert wird wohl das Projekt TelNet, das ebenfalls auf der Technik für die elektronischen Visite basiert: Bei schweren Infektionserkrankungen können niedergelassene und Klinikärzte per Video Spezialisten der Universitätskliniken Aachen oder Münster in die Sprechstunde schalten. Chirurg Beckmann berichtet von den "fantastischen Erfahrungen", die er mit dieser Art der Spezialisten-Konsultation schon gemacht habe: Habe er einen Patienten mit einem seltenen Keim und einer Wunde, die sich partout nicht schließen wolle, sei das Experten-Wissen der Uni-Kliniken ein riesiger Vorteil für die Behandlung. Überall in Deutschland könne man so die besten Standards anbieten, ohne Patienten immer gleich an die Kliniken zu überweisen.

Datenschutz

Bei aller Euphorie angesichts neuer technischer Möglichkeiten warnen die Ärzte aber auch: Der Datenschutz darf nicht auf der Strecke bleiben. In der elektronischen Patientenakte, die ab 2021 flächendeckend eingeführt sein soll, werden irgendwann enorme Datenmengen verfügbar sein - Videos aus der Sprechstunde, Daten aus Gesundheitsapps, elektronische Rezepte und Krankschreibungen. Theo Windhorst: "Stellen Sie sich vor, Versicherungen haben hier Zugriff - und verweigern Ihnen dann die Lebensversicherung. Oder Arbeitgeber wollen vor der Einstellung erst einmal die Herz-Rhythmus-Auswertung des letzten Vierteljahrs einsehen". Deshalb müssten bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen höchste Datenschutzstandards eingezogen werden. Damit gibt es aber aktuell offenbar noch Probleme. Laut Süddeutscher Zeitung soll es Patienten zunächst nicht möglich sein, selbst zu bestimmen, welche gespeicherten Informationen der jeweilige Arzt, Therapeut, Apotheker oder eine Klinik einsehen können. Das würde bedeuten, ein Zahnarzt könnte beispielsweise auch sehen, dass sein Patient oder seine Patientin etwa wegen Depressionen behandelt wird, ein Physiotherapeut könnte auf diese Weise auch über den letzten Schwangerschaftsabbruch einer Patientin informiert werden. Der Bünder Chirurg Beckmann betont: "Natürlich muss der Zugriff auf die Daten gut gesichert sein." Er gibt aber auch zu Bedenken: "Wenn ich eine Technik verhindern will, kann ich mit dem Thema Datenschutz auch alles platt hauen."


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