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Digitalisierung

Wie China seine Bürger komplett überwacht - und warum das viele nicht stört

In einem Sozialpunktesystem laufen alle verfügbaren Daten über Chinas Bürger zusammen. Schlechtes Verhalten hat Konsequenzen. Die Regierung hat es sogar geschafft, ihre Bürger von dem System zu überzeugen.

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Überwachungskameras in Shanghai. | © picture alliance / Jürgen Effner

Überwachungskameras in Shanghai. | © picture alliance / Jürgen Effner

17.08.2019 | 17.08.2019, 21:36

Es erinnert an die totale Überwachung in George Orwells Roman "1984": Wenn Chinas Polizisten ihre Augmented-Reality-Brille aufsetzen und dann auf einen der 1,4 Milliarden Untertanen des bevölkerungsreichsten Staates der Erde blicken, können sie praktischerweise gleich lesen, wen sie da vor sich haben: Neben dem Gesicht tanzt ein eingeblendetes digitales Etikett mit Namen, Daten und Fakten zur Person.

In der Provinz Xinjiang, wo viele Systemgegner leben, vor allem Moslems, kontrolliert China seine Bürger auf besonders moderne Art. Polizisten und zivile Spione des Staates nutzen hier eine neue Überwachungs-App. Per Handykamera können sie das Gesicht ihres Gegenübers scannen – ferne Megadatenbanken ermitteln dann dessen Identität und verknüpfen sie binnen Sekunden mit vielen weiteren Daten aller Art: Wen hat diese Person zuletzt angerufen? Wo war sie in letzter Zeit? Hat sie einen ungewöhnlich hohen Stromverbrauch, zu Hause oder auf Mobilgeräten? Wen kennt sie? Welcher Religionsgemeinschaft gehört sie an? Wie sind ihre politischen Ansichten? Welche ist ihre Blutgruppe? Kommuniziert sie manchmal im Internet mithilfe von sogenannten VPN-Tunneln – die nur mühsam zu überwachen und aus Sicht des Regimes völlig unnötig sind?

„Das gesamte System ist noch um einiges ausgefeilter, als wir dachten", sagt Maya Wang, China-Expertin von Human Rights Watch, einer Menschenrechtsorganisation, die im Mai in New York die neueste chinesische Big-Brother-Technologie der Weltpresse vorstellte.

Digitale Überwachung ist effektiver und eleganter

Chinas Überwacher greifen auf Daten aus sehr unterschiedlichen Quellen zu – und „markieren" digital jene Menschen, die am Ende als Regimekritiker eingestuft werden. Überquert eine solche Person einen Platz, blinkt über dem Kopf ein Warnhinweis – sichtbar nur für die Staatsbediensteten, die in klimatisierten Überwachungszen­tren auf Computerschirme blicken.

Im Prognostischen, im frühen Abwenden möglicher Aufwallungen, liegt die Königsdisziplin computergestützter Kontrollpolitik. Niemand will mehr einen physisch eskalierenden Machtkampf wie im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die digitale Massenüberwachung ist effektiver und eleganter zugleich. Wenn es gut läuft für die Machthaber, muss kein Polizist mehr mit knallendem Stiefel auftreten. Maschinen wachen darüber, ob Menschen systemkonform agieren.

Künftig will China alle nur denkbaren Aspekte von Fehlverhalten zusammenrechnen – in seinem in vielen Gegenden schon laufenden Sozialpunktesystem. Wer sich schlecht verhält, bekommt Punkte abgezogen. Wer sich gut verhält, bekommt einen Bonus.

Wer wenig Punkte hat, darf nicht mehr fliegen oder Bahn fahren

Reisende in Zügen wurden bereits jetzt hier und da per Durchsage ermahnt, sich nur ja gut zu benehmen, anderenfalls drohe Punktabzug. Gleiches passiert mit Leuten, die ihre Rechnungen oder ihre Steuern nicht rechtzeitig bezahlen.

Die Folgen sind vielfältig. Manche Chinesen mit niedriger Punktzahl werden von Beförderungen ausgeschlossen. Viele werden bestraft, indem man sie nicht reisen lässt. Seit dem 1. Mai 2018 können Bürgerinnen und Bürger, die auf einer staatlich geführten Sperrliste verzeichnet sind, für die Dauer von bis zu einem Jahr von Flug- und Bahnreisen ausgeschlossen werden. Seither verweigerte China in rund 17,5 Millionen Fällen Menschen das Reisen per Flugzeug.

Der politischen Führung ist das Punktesystem nicht peinlich – im Gegenteil. Die Kommunistische Partei preist es als Meilenstein auf dem Weg in die Sozialistische Harmonische Gesellschaft.

Mehrheit der Chinesen findet das Sozialpunktesystem gut

Sogar unter chinesischen Bürgern wird das Sozialpunktesystem von einer Mehrheit offenbar positiv bewertet, wie eine Studie der Freien Universität Berlin ergab. 49 Prozent der 2.209 Befragten äußerten „starke Zustimmung", während 31 Prozent „irgendwie zustimmen".

Sind diese Zahlen echt? Oder bereits ein Produkt von kollektiver Gehirnwäsche? Die Berliner Forscher deuten auf eine tiefe Vertrauenskrise in Chinas Gesellschaft: Viele Chinesen glaubten, sich vor Betrügern und anderen „schlechten" Menschen schützen zu müssen.

Wer als Chinese seine Punkte behalten oder gar aufstocken will, muss sich nicht nur anstrengen, sondern auch viel Umsicht und Feingefühl beweisen – alles im Sinne des Regimes. Spenden oder Freiwilligenarbeit etwa können das Punktekonto auffüllen. Abzüge indessen drohen schon, wenn man sich in sozialen Netzwerken auch nur mit „Freunden" umgibt, deren eigener Punktestand niedrig ist – dann zieht einer alle anderen ein bisschen runter. Aus Chatgruppen oder Freundeslisten schließt man solche Leute am besten aus – die Stasi nannte Menschen dieser Art zu DDR-Zeiten „negative Elemente".

Wie kleine Figuren in einem Computerspiel

Der besondere Clou der modernen Diktatur liegt im Wohlgefühl der Unterdrückten. Die meisten Chinesen jedenfalls fühlen sich offensichtlich sehr viel besser als die geplagten Menschen in Orwells düsteren Zukunftsvisionen. Verzweifelt fragen sich Liberale im Westen: Warum in aller Welt ist das so?

Schon vor zwei Jahren, auf einem Kongress des Chaos Computer Clubs in Leipzig, nannte die China-Expertin Katika Kühnreich ein Schlagwort, das die jungen deutschen Digitalfans in ihren Kapuzenpullovern aufhorchen ließ: Gamification. Chinas Unterdrückungssystem komme nicht drohend daher, sondern freundlich und lockend wie ein Computerspiel. „Mit Gamification wird ein System geschaffen, bei dem sich die Bürger gut und geborgen fühlen", sagt Kühnreich. Jeder bekomme einen Anreiz, sich möglichst systemkonform zu verhalten.

Reisebeschränkungen? Chinas digitale Diktatur kennt auch das Gegenteil: einen Reisebonus. Ab einer bestimmten Punktzahl kommt man schneller an ein Visum. Also strengen sich alle an und versuchen wie kleine Figuren in einem Computerspiel, aufs nächste Level zu kommen.

Regime verweist auf gute Absichten

Das Regime in Peking verteidigt sich, indem es Punkt für Punkt auf gute Absichten verweist. Die Verbrechensraten ließen sich durch mehr Kontrolle senken. Manchem Terroranschlag habe die Totalüberwachung schon vorgebeugt. Im Übrigen könne man Ziele wie eine groß angelegte ökologische Umsteuerung kaum hinbekommen, wenn nicht auch wirklich jeder mitzieht.

Wie zum Beispiel sieht es genau aus mit dem von einzelnen Bürgern bewirkten Ausstoß an Kohlendioxid? China hantiert bereits mit Systemen, die individuell Plus- und Minuspunkte generieren – mit dem schönen praktischen Effekt, dass dann Fahrten, die aus Sicht der Obrigkeit ohnehin nicht nötig sind, auch tatsächlich unterbleiben.

Auch im Westen, auf den Servern von Amazon, Apple und Co. entsteht derzeit ein neues, verblüffend präzises Bild von jedem einzelnen.Spracherkennungssysteme machen dramatische Fortschritte. Parallel dazu legen Gesichtserkennungssysteme ein ziemlich komplettes Puzzlebild der Bevölkerung moderner Staaten zusammen.

Für kritische Nachfragen sind die Konzerne gerüstet. Auf die Frage „Hallo Siri – belauscht du mich die ganze Zeit?" kommt vom Computer die kecke Antwort: „Nein, tue ich nicht."

Information


- Shenzhen ist die erste Stadt Chinas, in der eine lückenlose Erfassung und Verfolgung von Fahrzeugen und Menschen via Videokamera aufgebaut wurde. Die Verbrechensrate wurde auf ein Allzeit-Tief gesenkt. Shenzhen gilt als eine der sichersten Städte der Welt. Eine öffentliche Debatte über Datenschutz wird im bevölkerungsreichsten Land der Welt jedoch praktisch nicht geführt.

- Hongkong gehört seit dem Abzug der Briten 1997 zu China, wird aber autonom regiert. Anders als die Menschen in der kommunistischen Volksrepublik genießen die Hongkonger das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie Presse- und Versammlungsfreiheit. So dürfen Hongkonger - anders als der Rest der Chinesen - z.B. auch andere Messenger benutzen als den von der chinesischen Regierung überwachten Dienst "Wechat".

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